Situational Awareness

Es ist ein Mythos, dass Gewalt aus dem Nichts entsteht. Bedrohung und Gewalt haben immer eine Vorgeschichte. Üblicherweise kommen drei Dinge im Vorfeld einer verbalen, physischen oder sexualisierten Aggression zusammen: die Intention des Täters, die Einschätzung des Täters, ob ihm ein Übergriff gelingen kann und die Suche nach einer günstigen Gelegenheit. Die Zeitspanne zwischen Intention und Ausführung der Tat bietet die Möglichkeit, entsprechende Warnsignale zu erkennen und die Dynamik auf dem Weg zur Gewalt frühzeitig zu durchbrechen. Dies setzt eine angemessene und situationsbezogene Aufmerksamkeit voraus. Sie erst ermöglicht es, Auffälligkeiten wahrzunehmen und zu bewerten, Handlungsoptionen zu entwickeln und eine zweckmäßige Entscheidung zu treffen, ins Handeln kommen und so der Bedrohung entgegenzusteuern. Kurz: ACT AWARE!

 

Aufmerksamkeit

Wenn Sie sich einmal die Zeit nehmen, an öffentlichen Plätzen oder Orten wie Bahnhöfen, öffentlichen Verkehrsmitteln oder in Fußgängerzonen Menschen zu beobachten, wird Ihnen schnell auffallen, dass ein Großteil der Menschen, die dort unterwegs sind, sich in ihrer Umgebung völlig unaufmerksam verhalten. Sie stehen unter Zeitdruck, sind in Eile, überreizt, überlastet und erschöpft oder abgelenkt etwa durch Telefonieren oder Musik hören. All das nimmt diesen Menschen einen Großteil ihrer Kapazität zur Wahrnehmung ihres Umfeldes.

In einem sicheren Umfeld wie den eigenen vier Wänden freilich sollten wir auch mal völlig unaufmerksam und entspannt sein. Das ermöglicht uns schließlich, in einer schnelllebigen Welt, in der wir leben, auch mal zur Ruhe zu kommen und sorgt für Entspannung. Bewegen wir uns in diesem Modus allerdings in der Öffentlichkeit oder am Arbeitsplatz, benötigen wir beim Auftauchen von Gefahren lange sieben Sekunden, um handlungsfähig zu werden. Die Verleugnung der Realität („das kann doch nicht wahr sein“) und die aufkeimenden Gedanken und Emotionen führen erstmal zu einer Erstarrung. Täter nutzen dieses Überraschungsmoment, um die Kontrolle über die Situation zu gewinnen und lassen uns auch dann nicht mehr viel Spielraum für Entscheidungen. Sobald wir den sicheren und vertrauten Rahmen verlassen, ist es also hilfreich in einen Modus der frei flottierenden Aufmerksamkeit, Wachheit und des Bewusstseins zu wechseln. Nehmen wir dann Risiken oder Auffälligkeiten in unserer Umgebung wahr, gilt es noch genauer zu fokussieren, zu beobachten und zu analysieren, um einer potenziellen Gefahr rechtzeitig aus dem Weg zu gehen.

Diese unterschiedlichen Aufmerksamkeitszustände sind auch als Cooper Color Code bekannt, der eine hilfreiche Orientierung bietet, in welcher Situation sich unterschiedliche Aufmerksamkeits- und Anspannungszustände zur Wahrnehmung von Risiken und Gefahren besonders eigenen. Diese unterschiedlichen Aufmerksamkeitslevel sind mit unterschiedlichen Farben markiert.

 

Auffälligkeiten

Jede Situation, jeder Ort hat sein eigenes „Normal“, eine sogenannte „baseline“. Ein „Normal“ wie sich Menschen üblicherweise in dieser Umgebung verhalten. Offensichtlich verhalten sich Menschen eben in einem „Tante Emma Laden“ anders als in einem Bahnhof oder einem Fußballstadion. Wem diese Orte einigermaßen vertraut sind, wird abschätzen können, ob bestimmte Verhaltensweisen erwartbar sind: wie verhalten und äußern sich die Menschen, wie bewegen sie sich, wie sind sie gekleidet? Sind sie vertraut mit der Umgebung? Wie verhalten sie sich zu anderen Menschen oder in Gruppen? Wie ist die generelle Atmosphäre? Jede Auffälligkeit wird aus diesem „Normal“ herausstechen. Dies gilt es zu bewerten. Wie schätze ich das jetzt ein, was bedeutet das für mich und welche Möglichkeiten habe ich, damit umzugehen?

Intuition

Intuition ist keine Zauberei oder Eingebung aus dem Universum. Sie ist das Zusammenspiel von (unbewusster) Wahrnehmung und Erfahrung oder Wissen. Wir nehmen ein Vielfaches mehr an Informationen über unsere Sinne unbewusst als bewusst wahr. Dieser Filter ermöglicht es, uns auf unsere Aufgaben und Ziele zu fokussieren. Unbewusste Informationen werden aber gleichermaßen verarbeitet und mit unseren Erfahrungen abgeglichen. Oft können wir nicht beschreiben, was uns dazu angetrieben hat, eine bestimmte Entscheidung zu treffen, eben weil die Wahrnehmungen unbewusst, also sprachlich nicht fassbar sind. In aller Regel können wir aber davon ausgehen, dass einige Anzeichen darauf hingedeutet haben, dass sich hier eine „Gefahr“ auftut. Das sogenannte „Bauchgefühl würden wir als Angst oder Sorge bezeichnen, ein Gefahrenradar, der immer aktiv ist, soweit wir unsere Sinne offenhalten und unser eigenes „Gefühl“ nicht abtun. Die einfache Regel heißt: Wenn Sie Angst haben, ändern Sie die Situation, wenn Sie sich Sorgen machen, hinterfragen Sie Ihre Sorgen, aber versuchen Sie nicht, Intuition aktiv zu erzeugen.

 

Imaginieren

Bedrohliche Lagen und Gefahren können sich sehr unterschiedlich darstellen. Daher gibt es auch keine immer gültige Blaupause für die jeweilige Situation. Innerlich vorbereitet zu sein, zumindest eine Idee von Handlungsoptionen zu haben, hilft aber nicht nur das eigene Sicherheitsgefühl und Selbstvertrauen zu erhöhen, sondern befähigt uns in der realen Situation dann auch aus einem Fundus an Möglichkeiten und Optionen zu schöpfen. Diese Erfahrung müssen wir nicht in der Realität machen. Oft reicht es, in ausgewählten Momenten, sich zu fragen „was wäre, wenn…?“ Wohin würde ich ausweichen? Wo ist Hilfe zu erwarten? Was würde ich sagen? Wie würde ich mich verhalten? Wo ist der nächste Fluchtweg oder Notausgang?

 

Situational Awareness ist der Schlüssel für ein sicherheitsgerechtes Verhalten, das uns und unsere Nächsten vor Gefahren und Gewalt schützt. Denn Aggression und Gewalt entsteht eben nicht aus dem Nichts. Wer Risiken frühzeitig erkennt, entsprechend bewerten und für sich einordnen kann, bleibt in der Lage, Eskalationen frühzeitig, angemessen und aktiv entgegenzusteuern.

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